"vorwärts" Nr. 12 / 1996

"Jammern ist der Gruß der Kaufleute"

Niemand sollte sich von der Standort-Deutschland-Debatte ins Boxhorn jagen lassen.
Löhne sind Kaufkraft, und wer das nicht beachtet, treibt Deutschland in die Krise. So
Rolf Dietrich Schwartz in seinem Buch "Kapitalismus ohne Netz". Von Oskar Lafontaine

Es gibt sie noch, die kritischen Köpfe unter den deutschen Wirtschaftsjournalisten. Zu ihnen gehört Rolf Dietrich Schwartz, seit vielen Jahren Parlamentskorrespondent der Frankfurter Rundschau in Bonn. In seinem scharfsinnigen und mit erfrischender Prägnanz geschriebenen neuen Buch ,,Kapitalismus ohne Netz" geht der gelernte Ökonom mit der gegenwärtigen Wirtschaftspolitik von Bundesregierung, Wirtschaftsverbänden und Sachverständigenrat ins Gericht. Sein Urteil: Eigentich wären die Vertreter des herschenden Neoliberalismus nach ihren ständigen Fehlprognosen und der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit verpflichtet, ihre einseitigen Rezepte des Lohndrucks und des Sozialabbaus zu korrigieren. Die tatsächliche Antwort der ,,herrschenden Leere" heißt laut Schwartz aber:,,Die Erde ist halt eine Scheibe und die Arbeitslosen sind an ihrem freiwilligen Los selber schuld." In seiner Analyse schlägt der Autor einen historischen Bogen von der Brüningschen Notverordnungspolitik der 30er lahre bis zu den aktuellen Spar- und Streichaktionen der Regierung Kohl. Seine Bewertung der zeitgenössischen Kürzungspolitik: ,,Das Soziale an der Marktwirtschaf, wie es ein Ludwig Erhard seligen Angedenkens einst verstanden hat, wird an Herz und Gliedern amputiert." ,,Alles schon mal dagewesen" mit dieser Feststellung weist Schwartz unter Rückgriff auf historische Quellen nach, daß der so aktuelle klingende Ruf der Unternehmensverbände nach Lohnsenkung und Sozialabbau keineswegs originell oder neu ist. "Jammern ist der Gruß der Kaufleute", diese Weisheit ist keine Erfindung des Globalisierungszeitalters, sondern gehört seit jeher zur Existenzberechtigung von Verbandsfunktionären. Schwartz zeichnet nach, wie sich zu Beginn der neunziger Jahre die Bundesregierung mit dem Schlagwort vom Standort Deutschland in den Kreis der "Schwarzmaler und Miesmacher" eingereiht hat. Auch unter Heranziehung zunehmend kritischer Stimmen renommierterWirtschaftsforschungsinstitute kommt Schwartz zu dem Schluß: ,,Die ganze Standort-Debatte ist Ergebnis eines rein interessenpolitisch bedingten Verteilungskampfes. "In dem wirtschaftspolitischen Kaleidoskop, das Rolf Dietrich Schwartz skizziert, werden annähernd alle Instrumente angesprochen, die einen Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit leisten können, von der Steuerpolitik über die Arbeifszeitverkürzung bis hin zur ökologischen Steuerreform. Vor allem verweist Schwartz aber auf den volkswirtschaftlichen Kreislaufzusammenhang von Angebot und Nachfrage. Den einseitigen Angebotspolitikem ruft er ins Gedächtnis, daß Löhne nicht nur einen Kostenfaktor darstellen, sondem über Kaufkraft und Nachfrage eine ganz wesentliche Voraussetzung dafür sind, daß der Wirtschaftsmotor rund laufen kann. Zu Recht weist Schwartz darauf hin, daß es ein Irrglaube wäre, wenn die Industriestaaten ihr Hei lin einer Flucht in den Export suchen wollten. ,,Nicht alle Staaten können nämlich gleichzeitig Überschüsse erzielen und ihre außenwirtschaftliche Bilanz aktivieren. Des einen Export ist immer des anderen Import, und die Summe der Leistungsbilanzsalden in der Weltwirtschaft ist notwendigerweise Null", zitiert er den ehemaligen Präsidenten des renommierten Hamburger HWWA-Instituts, Erhard Kantzenbach. Schwartz zieht aus seiner Analyse folgenden Schluß: Die neoliberale Politik der Industriestaaten "bietet keinen Ausweg aus dem Teufelskreis gegenseitigen Niederkonkurrierens mit Sozialdumping und Abwertungswettlauf". Im Zeitalter der Globalisierung bietet dieser ,,in veralteten nationalen Bahnen" stattfindende Verdrängungs- und Vernichtungswettbewerb mit Lohn- und Subventionskonkurrenz und mit Sozial- und Ökodumping ,,längst keine Penpektive mehr". Mit Blick auf neuere Entwicklungen in der wirtschaftspolitischen Debatte sieht Schwartz allerdings Licht am Ende des Tunnels: ,,Die Angriffsfront der Wirtschaftslobby bröckelt." Er verweist auf amerikanische Ökonomen und auf das von der SPD entwickelte Konzept der interernationalen Zusammenarbeit, also die Forderung nach einem politischen Ordnungsrahmen für die Weltwirtschaft, der sich an den Grundsätzen der sozialen und ökologischen Marktwirtschaft orientiert: Ein Ordnungsrahmen, der mit gemeinsamen Regelungen innerhalb der Europäischen Union, der G 7, der OECD und der Welthandelsorganisation WTO dafür sorgt, daß der verhängnisvolle Abwertungswettlauf der Nationalstaaten eingedämmt und stattdessen durch fairen Leistungswettbewerb der Wohlstand der Nationen und ihrer Arbeitnehmerschaft gefördert wird. Als nüchterner, aber gleichwohl engagierter Beobachter beurteilt Schwartz die Aussichten dieser neuen Wirtschaftspolitik, sich durchzusetzen, noch zurückhaltend. Wir sind da zuversichtlicher: Die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung beruht auf Angst und instrumentalisiert diese Ängste vor Globalisierung, Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg für eine Umverteilungspolitik zu Lasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Eine derartige Politik kann auf Dauer nicht mehrheitsfähig sein. Wir wollen deutlich machen, daß es zu dieser veralteten Politik eine Altemahve gibt, die den ,,Wettlauf nach unten" stoppen kann.