Der Tagesspiegel vom 18. Oktober 1996

Erfreulich querliegend zur herrschenden Lehre über den Standort Deutschland

Der Journalist Rolf Dietrich Schwartz analysiert die Regierung Kohl als
unverfrorene Interessenvertreterin der Besitzenden

Wenn Bundesfinanzminister Theo Waigel oder sein Kollege aus dem Wirtschaftsres- sort, Günther Rexrodt, in Bonn vor die Bundespressekonferenz treten. dann lassen krtische Fragen von Rolf Dietnch Schwartz nicht lange auf sich warten. Wohlwollen schlägt den Regierenden dabei nicht entgegen, denn Schwartz macht aus seinem Standpunkt keinen Hehl. Mit Leib und Seele der politischen Linken zugehörig, stellt sich die Politik der Regierung Kohl für den Bonner Wirtschaftrkorrespondenten der „Frankfurter Rundschau" als unverfrorene Interessenpolitik zugunsten der Besitzenden dar. Dieser Linie bleibt Schwartz in seinem Essay „Kapitalismus ohne Netz" treu. Die Finanz- und die Sozialpolitik der Regierung Kohl ordnet er in die Linie der neoliberalen Politik ein, die sich mir dem Namen "Thatcherismus" und "Reagonomics" verbinden. „Über 150 Sozialeinschnitte haben fleißige Rechner wie die der Arbeiterkammer Bremen in zig Sparpaketen seit 1982 bilanziert Ende offen", schreibt Schwartz in seinem Buch auf. Für ihn wird die ganze Debatte um den Standort Deutschland zum „Ergebnis ei- nes rein interessenpolitisch bedingten Ver- teilungskampfes". Die Klagen über den Standort Deutschland stehen seiner Ansicht nach in einer Tradition. die von der Kaiser- zeit über die Brüningsche Sparpolitik Anfang der 30er Jahre bis zu Kohl reichen. Die Binnennachfrage, bereits recht kränklich, wird sträflich vemachlässigt, rügt Schwartz. Im Schrumpfen der Massenkaufkraft liege eines der entscheidenden Hindernisse dafür, daß die Wirtschaft sich nicht erholt. Sie wird buchstäblich kaputtgespart. Also muß der Export gesteigert werden, um die fehlende Inlandsnachfrage auszugleichen. Die Folge: die Mark wird aufgewertet, die Wettbewerbsvorteile durch das Sparen verschwinden wieder. Auch wenn Schwartz' Argumentation immer wieder recht grobschlächtig ist, und sich die Herausforderungen, denen die Wirtschaft durch die Globalisierung der Märkte ausgesetzt ist, nicht immer so leicht in das Schwarz-weiß-Schema zu pressen sind, wie der Autor das polemisch tut, lassen sich seine Einwände nichf vom Tisch wischen. Es sfimmt ja, daß die Kosten der Exportwirtschaft überwiegend durch Aufwertungen der D-Mark und nicht durch die hohen Löhne nach oben getrieben wurden. Daß die Steuersätze für deutsche Untemehmen nominell zwar hoch sind, die Abgaben auf Gewinne trotz der Vergoldung der Bilanzen in der Wirklichkeit auf Null schrumpfen, ist ebenfalls ein Einwand, der in der Spardebatte viel zu selten zu hören ist. Verdienstvoll ist am kämpfenschen Essay des Wirtschaftswissenschaftlers, der die Bonner Politik seit 1972 aus der Nähe beobachtet, vor allem, daß er auf die Gefahren des Sozialabbaus für die demokratische Ordnung der Bundesrepublik hinweist. Der Kapitalismus ohne Netz, den mancher der selbsternannten Standortpolitiker sich wünscht. destablisiert letztlich die gesamte Gesellschaft. Es gibt Werte in einem Gemeinwesen, die sich über Niederkonkurrieren in allen Lebenslagen nicht vermitteln lassen. Leider schürft Schwartz gerade bei dieser Frage nicht tiefer. Er hätte dafür gut und gerne auf seinen kurzen Ausflug in die Welt der Dramatiker verzichten können, der ihn dazu brachte, den Sozialabbau auf fünf Seiten als Theaterstück darzustellen. Eine Leseprobe: „GRAF DRACULA wird angelockt (Spitzname: Der Steuerhinterzieher). Er brüllt: Der Einschnitt muß tiefer gehen als 82, mindestens 96." Gäbe es noch Lektorate, wäre so etwas gestrichen worden. Aber gelehrte Analysten können und wollen die Wilhelm von Stemburg in der Reihe "Aufbau Thema" herausgegebenen Streitschriften ja auch nicht liefern. Sie richten sich an Leser, denen die Lektüre von Zeitungen und Zeirschriften nicht genügt, die sich aber auch nicht durch dicke Fachbücher mit ihrem Fachchinesisch quälen mögen. Ihnen bietet Schwartz ein lesenswertes Buch, das gerade im anhaltenden Streit um die Zukunft des Sozialstaats erfreulich quer zur „herrschenden Lehre" derjenigen liegt, die sich die Sicherung des Standorts Deutschland nur noch über Sozialabbau vorstellen.

Carsten Germis